Die Schallplatte vorsichtig aus der Hülle und dem Papier geholt, mit dem Microfasertuch (wo warst du vor 25 Jahren?) feinsäuberlich geputzt und die Vinylscheibe vorsichtig auf den drehenden Plattenteller gelegt. Dann den Arm des Lenco-Plattenspielers mit der Diamantnadel vorsichtig auf die Führungsrille gelegt – ein leises Knistern verrät: alles läuft. Du setzt dich auf die Couch oder in den Sessel – und wartest gespannt auf den ersten Ton von Antonio Vivaldis Herbst aus den vier Jahreszeiten (Op. 8, RV 293) in der Aufnahme von The Englisch Concert mit Simon Standages virtuosem Geigenspiel. Man fühlt förmlich, wie Dirigent Trevor Pinnock den Stock hebt – und dann «Brrrrrrrrrrrrrrruuuuuuuuummmmmmmmm!!!!!!!»
Defekte Platte? Anlage futsch? Akuter Gehörsturz? Nein! Herbst – ohne Vivaldi. Dafür mit Peter Müller (richtiger Name der Red. bekannt) am Laubbläser! Sofort ist klar: selbst mit den doppelverglasten Fenstern wird das mit dem Cembalo/Geigen-Herbst heute nichts mehr. Denn Müller hat den alljährlichen Kampf aufgenommen – den Kampf gegen die gefallenen, farbigen Boten des Herbst.
Ein Kampf freilich, der keine Gewinner kennt. Seit Laubbekämpfer aussehen wie einst die Ghostbusters im gleichnamigen Film, hat der Herbst erheblich an Lautstärke zugelegt. Wo früher ein Besen leicht über den Boden kehrte, bläst heute ein Benzinmotor mit über 100 dB durchs Quartier (eine Lautstärke, die notabene zur sofortigen Schliessung jedes Klubs führen würde).
Mit den Blättern werden auch Hunde- und Katzenhäufchen zusammen mit Staub und Dreck in die Atemluft verwirbelt (Schutzmasken auf) und es werden den Klein- und Kleinstlebewesen die Lebensräume unter Blättern und in Haufen zerstört. Ganz zu schweigen von den Abgasen und dem Feinstaub – und der Geräuschkulisse, die Vivaldis Streicherintro zur Erntezeit verstummen lassen.
Es wäre übrigens den Herbsttönen von The Mamas and the Papas («California Dreamin’»), den «Fallen Leaves» von Billy Talent, «Wake Me Up When September Ends» von Green Day oder Paolo Nutinis wunderschönem «Autumn» nicht anders ergangen als dem guten Vivaldi.
Euch allen einen schönen Herbst!
Kolumne von Manuel C. Widmer in der Berner Kulturagenda N°. 43, 22.10.2015