«Beharrlich in der Sache, flexibel in der Form.» Ich weiss, ich bin knapp 35 Jahre zu alt, um Ideen einzubringen oder gar wünsche zu äussern. Dürfe ich aber, dann wäre es: «Beharrlich in der Sache, flexibel in der Form.» Ich teile eure Forderungen, ich bewundere eure Hartnäckigkeit. Ich bin dankbar die Energie, die ihr in die Klima-Frage gebracht habt und noch bringt. Und ich kämpfe da, wo ich kann, dass eure Ziele doch noch irgendwie erreicht werden können und ihr eine (lebenswerte) Zukunft habt.
Ja, die Mühlen der Schweizerischen Politik mahlen viel zu langsam, wenn einem das „ewige“ Eis unter dem Arsch wegschmilzt, die Hänge in die Dörfer rutschen und eine Rekord-Trockenheit die nächste jagt. Wir wissen heute genau, wo man ansetzen müsste – und trotzdem wird in der Pandemie die Flugindustrie mit schier unerschöpflichen Mitteln gestützt.
Die Form und Farbe eures Protestes, die unverdrossene Zielstrebigkeit der Freitagsdemos, die Dauerprovokation des „politischen Establishments“ zeigt erste Erfolge. In nur 400 Tagen wurde das Thema Klima – wenn auch von der Pandemie etwas in den Hintergrund gerückt – zum Top-Thema, dem sich kein politsicher Player mehr entziehen konnte und kann.
Ich habe mich gestern Morgen auch über die Besetzung des Bundesplatzes gefreut. Die Klimabewegung ist zurück! Persistent wie immer! Zum Glück! Danke!
Ich merke aber auch, dass „zwei Herzen ach in meiner Brust wohnen!“ Das Inhaltsherz und das Formherz. Über den Inhalt habe ich mich bereist ausgelassen. Aber heuet Morgen habe ich ein flaues Gefühl im Magen. Ich befürchte, dass der Inhalt hinter die Form treten könnte. Dass die Unverrückbarkeit in der Form dem Ziel die Show stehlen könnte. Dass der unbedingte Wille, auf dem Bundesplatz auszuharren, nicht dem eigentlichen Bestreben dient.
Ihr habt bis heute mehrfach bewiesen, dass ihr euch nicht irritieren lasst. Könnte es ein, das euch das heute im Weg steht? «Beharrlich in der Sache, flexibel in der Form!» Wer gewinnt genau was, wen ihr auf dem Bundesplatz bleibt und damit eine Räumung provoziert. Wenn ihr damit eine Stadt, eine Stadtregierung, die eigentlich hinter euch steht, in eine kaum lösbare Zwickmühle zwingt? Kein Klimaziel wird schneller umgesetzt, wenn ihr auf dem Bundeplatz bleibt. Die Diskussion wird sich verlagern. Vom Inhalt zur Form. Die Leute werden über eine Räumung diskutieren, darüber, ob diese nötig oder richtig war. Darüber, ob die Stadt Recht durchsetzen muss oder nicht. Über Tränengas und Wasserwerfer. Aber niemand mehr über Klimaziele.
Ich weiss nicht, was ich vor 30 Jahren gemacht hätte. Ich weiss nicht, ob Bleiben oder auf den Waisenhausplatz wechseln „das Richtige“ ist. Ich weiss aber, dass ich heute den Inhalt über die Form stelle. Dass mir Netto-Null 2030 wichtiger ist als ein Tauziehen um den Bundesplatz. Dass ihr in meinen Augen nur noch glaubwürdiger werdet, wenn ihr auch auf das Muskelspiel nicht einlasst. Dass es keine Gewinner gibt, wenn es zu einer Räumung kommt – sondern nur Verlierer. Das Klima ist schon heiss genug – ich wäre dankbar, ihr würdet etwas zur Abkühlung beitragen.
Ich würde euch gerne im Camp auf dem Waisenhausplatz besuchen, mit euch diskutieren und Wege suchen, die Klimaziele noch schneller zu erreichen. Danke all jenen, die sich die Zeit genommen haben,
meine Gedanken zu lesen und sich damit auseinanderzusetzen. „Ufe mit de Klimaziel, abe mit em CO2!!!“
Manuel C. Widmer, Stadtrat Bern (GFL)